Photo: Twice-shared bush in winter / Zweigeteilter Busch im Winter
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Auf, du arme Seele
1.) Auf, du arme Seele,
In des Leibes Höhle,
Denke, was ich bin.
Denke doch, wie bange
Gehst du in dem Gange
Dieses Lebens hin.
Und wie weit
Ist deine Zeit
Unvermerket in den Jahren
Mit dir hingefahren.
2.) Unsre Tage dringen
Unter allen Dingen
In das Alter ein.
Doch wir blinden Leute
Denken nur auf heute
Und gewohnen drein.
Weil man jetzt
Im Leben sitzt,
Meinen wir, es könn' auf Erden
Niemals anders werden.
3.) Aber Gott ohn' Ende,
Der du deine Hände
Über alles streckst,
Wie soll ich dir danken,
Dass du Ziel und Schranken
Mir so ferne steckst?
Nicht von mir,
Nur ganz in dir,
Bin ich, leb ich und bestehe,
Wo ich steh und gehe.
4.) Du hast Geist und Leben
Erstlich selbst gegeben
Dieser meiner Brust.
Auch von allen Jahren,
Da sie noch nicht waren,
Jedes schon gewusst.
Und so fort
Bist du der Hort,
Der mir meine Tage lohnet
Und mit Gnaden krönet.
5.) Sage mein Erbarmer,
Woher bin ich Armer
Dieser Liebe wert,
Dass mir so viel Stunden,
Die mit Glück verbunden,
In der Welt geschert?
Ist das Recht
Für einen Knecht,
Den man seines Herren Willen
Wenig sieht erfüllen?
6.) Wie viel kleiner Sünder
Sterben als die Kinder,
Eh' sie was verstehn!
Und wie viel der andern,
Welche täglich wandern
Und zu Grabe gehn.
Aber ich
Befinde mich
Mitten unter den Geschäften
Bei gewünschten Kräften.
7.) Darum, mein Erhalter,
Der du mir das Alter
Bis hierher gebracht.
Ich bin alle Tage schuldig,
Dass ich sag geduldig:
Du hast's wohl gemacht.
Ich bin dein
Nur ganz allein,
Dir auch bleibt mein ganzes Leben,
Weil ich bin, ergeben.
8.) Ich will deinen Ehren
Ihren Ruhm vermehren,
Weil ich reden kann
Und mit Hand und Munde
Keine Viertelstunde
Übel legen an.
Bis einmal,
Nach aller Qual,
Ich, der bösen Welt entnommen,
Zu dir werde kommen.
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Text: Kaspar Neumann
Melodie: Jesu, meine Freude
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gefunden in:
Geistliches neuvermehrtes
Altenburgisches Gesang- undGebetbuch,
Altenburg, 1778. Liednummer 895
Kapitel: Von der Buße
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Kaspar Neumann (* 14. September 1648 in Breslau; † 27. Januar 1715 ebenda) gilt als einer der ersten bedeutenden deutschen Vertreter der Politischen Arithmetik und Wegbereiter der Bevölkerungsstatistik. Darüber hinaus war er ein bedeutender evangelischer Kirchenlieddichter, Pfarrer und Kircheninspektor.
Sein Wirken fällt in eine Periode der stürmischen Entwicklung der Naturwissenschaften und der beginnenden Frühaufklärung am Ende des 17. Jahrhunderts.
Nach Beendigung seiner Universitätszeit trat Neumann in den Dienst Herzogs Ernst des Frommen und begleitete dessen Erbprinzen auf einer Reise durch Deutschland und die Schweiz. Es folgten einige Jahre als Hofprediger in Altenburg. In dieser Zeit heiratete er die Tochter des Leibarztes des Fürsten von Sachsen-Friedenstein, J. J. Rabe. Bald darauf 1678 erhielt Neumann einen Ruf als Diakonus an der Maria-Magdalenen-Kirche in Breslau tätig zu sein. Er kehrte in seine Heimatstadt zurück und blieb ihr bis zu seinem am 27. Januar 1715 erfolgten Tode eng verbunden. Auch eine Berufung als Superintendent nach Lüneburg 1692 lehnte er ab. In Breslau war er zuvor Pastor an der Magdalenenkirche (1689) und seit 1697 bekleidete er die Stelle eines Inspektors der evangelischen Kirchen und Schulen und eines Pastors der Elisabeth-Kirche, sowie die damit verbundene erste Professur für Theologie an beiden städtischen Gymnasien.
Zu Neumanns bedeutsamsten Leistungen auf theologischem Gebiet zählt das von ihm verfasste Gebetbuch „Kern aller Gebete“, das erstmalig in Jena 1680 erschien, in alle bedeutenden europäischen Sprachen übersetzt und bis zu seinem Tod 22mal aufgelegt wurde.
Des Weiteren verfasste Neumann eine Anzahl von Kirchenliedern und veranlasste die Herausgabe des ersten schlesischen Kirchengesangbuches (1703). Bereits in seinen Predigten kommt immer wieder sein naturwissenschaftliches Interesse zum Ausdruck. Dabei bezog er konsequent Stellung gegen den in der damaligen Zeit noch weit verbreiteten Aberglauben, insbesondere im Bereich der Astrologie.
Neumann verfolgte nicht nur die neuesten naturwissenschaftlichen Entdeckungen aufmerksam und diskutierte in seinen Briefen astronomische, meteorologische und physikalische Beobachtungen, sondern er betätigte sich auch selbst unter anderem auf dem Gebiet der Botanik, indem er insbesondere neben anderen botanischen Seltenheiten die Pflanzen der Bibel in seinem Hausgarten zu kultivieren suchte. Ausgehend von seiner theologischen Bildung und seinen naturwissenschaftlichen Interessen versuchte Neumann die Methoden der Naturforschung mit der Theologie zu verknüpfen. Die mathematisch- experimentelle Untersuchungsweise, die auf vielen Gebieten der Naturwissenschaft im 17.Jahrhundert so erfolgreich praktiziert wurde, diente Neumann als Vorbild auch bei der Untersuchung der Bewegungen im Leben und Sterben der Menschen.
Davon ausgehend sammelte, ordnete und verglich er die in den Kirchenbüchern seiner Heimat niedergelegten Nachrichten über Geburts-und Sterbefälle der evangelischen Gemeinden von Breslau und bemühte sich Informationen auch aus anderen Orten zu erhalten. Neumanns erstmaliger Versuch, gestützt auf die empirische Analyse massenstatistischer Daten gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen Leben und Tod zu finden und abergläubische Vorstellungen darüber zu widerlegen, ist darauf gerichtet die Wirksamkeit Gottes auch auf diesem Gebiet nachzuweisen. Ausgehend von seinen Auswertungen wurden Sterbetafeln für das Versicherungswesen erstellt, sein Einfluss ging weit über Deutschland hinaus und fand auch im Ausland höchste Anerkennung.