Cassel. 1) Regierungsbezirk der preuß. Provinz Hessen-Nassau, umfaßt den größten Teil des ehemaligen Kurfürstentums Hessen, grenzt im O. an die thüring. Fürstentümer, im NW. an Waldeck und umgiebt im SW. das Großherzogtum Hessen. Das Land wird bewässert durch die Flüsse Kinzig, Werra, Fulda, Haun, Schwalm, Eder, Lahn und Main, ist durchgehends gebirgig: im N. Habichtswald (595 m), Meißner (749 m), Reinhardswald mit Staufenberg (469 m), Kaufungerwald mit Bilsstein (640 m), Knüllgebirge (632 m); im W. Kellerwald (673 m) und Burgwald (408 m); im S. die Hohe Rhön mit Wasserkuppe (950 m), und fruchtbar (Getreide, Mais, Hirse, Hanf, Flachs, Rüben, Cichorien, Mohn, Tabak, Hopfen), mit Wein- und bedeutendem Obstbau, Holz- und Bijouteriewarenindustrie und hat 10077,70 qkm, (1890) 820988 (396444 männl., 424544 weibl.) E., darunter 6716 Militärpersonen, 64 Städte mit 1042,26 qkm, 256910 (124600 männl., 132310 weibl.) E., 1329 Landgemeinden und 279 Gutsbezirke mit 9035,44 qkm, 564078 (271844 männl., 292234 weibl.) E.; ferner 115243 bewohnte, 2299 unbewohnte Wohnhäuser, 171056 Haushaltungen und 494 Anstalten für gemeinsamen Aufenthalt. Dem Religionsbekenntnis nach waren 665045 Evangelische, 134487 Katholiken, 2729 andere Christen, 182 Dissidenten und 18468 Israeliten.
Der Regierungsbezirk zerfällt in 8 Reichstagswahlkreise (die angegebenen Abgeordneten wurden im Juni 1893 gewählt): Rinteln-Hofgeismar (Dr. König, Antisemit), Cassel-Melsungen (Hüpeden, konservativ), Fritzlar-Ziegenhain (Liebermann von Sonnenberg, Antisemit), Eschwege-Schmalkalden (Leuß, Antisemit), Marburg-Frankenberg (Dr. Boeckel, Antisemit), Hersfeld-Rotenburg (Werner, Antisemit), Fulda-Schlüchtern (Müller, Centrum), Hanau-Gelnhausen (Stroh, konservativ).
Der Regierungsbezirk zerfällt in die 24 Kreise:
Cassel (Landkreis. Stadt)
1 Stadtkreis Cassel 17,74 2984 72477 4263 63623 6230 607 2017
2 Landkreis Cassel 406,40 5776 51163 126 49262 1479 188 234
3 Eschwege 502,43 6769 42260 84 39971 853 106 1330
4 Fritzlar 340,68 4265 26482 77 23026 2487 7 962
5 Hofgeismar 614,27 5731 36362 59 35142 503 165 552
6 Homberg 320,42 3610 21453 67 20840 146 24 443
7 Melsungen 389,11 4224 27276 70 26274 195 44 763
8 Rotenburg in Hessen-Nassau 554,22 4923 29991 54 28529 431 135 896
9 Witzenhausen 424,06 4752 29256 69 28330 301 349 276
10 Wolfhagen 406,87 4041 23958 58 20510 2933 16 499
11 Marburg 566,90 6666 46633 82 42724 2655 531 723
12 Frankenberg 559,88 3926 24168 43 23241 246 66 615
13 Kirchhain 329,60 3968 21998 66 11848 9262 2 886
14 Ziegenhain 584,18 5751 32416 55 31099 280 78 959
15 Fulda 613,33 7244 49168 80 3599 44872 17 680
16 Hersfeld 501,00 5209 31300 62 30230 335 175 560
17 Hünfeld 443,58 4097 23508 53 7369 15115 - 1024
18 Stadtkreis Hanau 11,40 1796 25029 2275 19303 4871 247 608
19 Landkreis Hanau 297,84 5671 39457 132 32317 5944 63 1133
20 Gelnhausen 643,68 6829 41773 65 26842 13807 51 1073
21 Schlüchtern 462,72 4437 28497 61 19643 7710 11 1133
22 Schmalkalden 279,59 4912 33268 119 32346 547 90 285
23 Rinteln 450,31 6760 41580 92 40686 584 13 297
24 Gersfeld 357,49 3747 21515 60 8291 12701 3 520
2) Landkreis (ohne Stadt C.) im Reg.-Bez. C., hat (1890) 51163 (24941 männl., 26222 weibl.) E. in 52 Landgemeinden und 15 Gutsbezirken.
3) Hauptstadt der preuß. Provinz Hessen-Nassau und des Reg.-Bez. C., königl. Residenzstadt und Stadtkreis, bis 1866 Hauptstadt des ehemaligen Kurfürstentums Hessen, liegt 51° 19' nördl. Br. und 27° 9' östl. L. von Greenwich (Turm der St. Martinskirche), in 173 m Höhe, anmutig in fruchtbarer Gegend, zu beiden Seiten der Fulda in einem weiten Thalbecken, das im W. von dem Habichtswald, im N. von dem Reinhardswald, im O. von dem Kaufungerwald und im S. von der Söhre begrenzt wird. (S. den umstehenden Situationsplan.)
Die mittlere Jahrestemperatur beträgt +9,2° C. (im Sommer + 17,77°, im Winter +1,37° C.).
Bevölkerung. C. hatte 1870: 46378, 1885: 64083, 1890: 72477 (35603 männl., 36874 weibl.) E., darunter 63623 Evangelische, 6230 Katholiken, 607 andere Christen und 2017 Israeliten, d. i. eine Zunahme (1885–90) von 8394 Personen oder 13 Proz. oder jährlich 1678 Personen; ferner 2899 bewohnte Gebäude, 13994 Familienhaushaltungen, 1025 einzeln lebende selbständige Personen und 72 Anstalten. Die Zahl der Geburten betrug (1890) 2017 (darunter 77 Totgeburten), der Sterbefälle 1202, der Eheschließungen 626. In Garnison (4213 Mann) liegen in C. das 3. Bataillon des 32. Infanterieregiments, 1. und 2. Bataillon des 83. Infanterieregiments von Wittich, das 14. Husarenregiment Landgraf Friedrich Ⅱ. von Hessen-Homburg, die 1., 3. und die reitende Abteilung des 11. Feldartillerieregiments und das 11. Trainbataillon. ^[Abb: Wappen von Cassel]
Äußere Anlage. Die Stadt, deren Weichbild 17,73 qkm beträgt, besteht aus der Altstadt (s. Plan, 1), der Ober- und der Unterneustadt (2, 3) und dem neuen Westviertel (Hohenzollernstadtteil, 4). Nur die Unterneustadt, der am tiefsten gelegene Stadtteil, liegt auf dem rechten, die übrigen Teile auf drei sich sanft abdachenden Hügeln (Kratzenberg, Weinberg, Möncheberg) auf dem linken Ufer der Fulda, über die eine 1788–94 unter Landgraf Wilhelm Ⅸ. erbaute steinerne Brücke mit 3 Bogen und eine Drahthängebrücke (1870), letztere nur für Fußgänger, führen. C. gehört zu den schönsten Städten Deutschlands. Besonders zeichnen sich die Oberneustadt, früher auch Französisch-Neustadt genannt, 1688 nach einem Plane des Baumeisters du Ry von franz. Auswanderern angelegt, und die neuen westl. Stadtteile durch breite, gerade Straßen, große, freie Plätze und schöne Häuser aus. An die nach 1767 geschleiften Festungswerke erinnern noch einige alte Bauwerke, wie das aus Sandstein erbaute Zeughaus an der Artilleriestraße und der Zwehrenturm, früher als Gefängnis dienend, ferner einige Straßen, wie die Kastenalsgasse, nach einem mit der ehemaligen Bastion Wilhelmsburg verbundenen Festungsgefängnisse, das Kastenal, genannt, und die Giesbergstraße, nach der Bastion Giesberg genannt.
Straßen. Plätze. Denkmäler. Von den 180 Straßen und 19 öffentlichen Plätzen sind hervorzuheben die von NO. nach SW. führende Königsstraße (1600 m lang, 19 m breit), welche den Königsplatz durchschneidet, und an die sich die nach W. in gerader Richtung nach Wilhelmshöhe führende Wilhelmshöher Allee anschließt, parallel der letztern die Hohenzollernstraße mit ihren Prachtbauten und weiter nördlich die Kölnische Allee; ferner die Schöne Aussicht unmittelbar über dem herrlichen Auepark an dem steilen Südostrande des Weinbergs, der Friedrichsplatz (324 m lang, 151 m breit), auf drei Seiten von einer doppelten Lindenreihe umgeben, mit dem marmornen Kolossalstandbild des Landgrafen Friedrich Ⅱ. von Nahl und einer Wettersäule, der Theaterplatz mit dem Bronzestandbild (1883) von Louis Spohr (1822–59 Kapellmeister am Hoftheater) von Hartzer, der runde Königsplatz (143 m im Durchmesser), bekannt durch sein sechsfaches Echo, der Karlsplatz mit dem Standbild des um C. hochverdienten Landgrafen Karl, der Meßplatz mit der Bronzebüste auf Sandsteinsockel des frühern Oberbürgermeisters Schomburg von Echtermeyer, der Wilhelmshöher Platz, der große Ständeplatz mit vierfachen Lindenreihen und Anlagen und der Friedrich-Wilhelmsplatz mit einem Löwenbrunnen (1881). Auf dem Königsplatze, während der westfäl. Regierung Napoleonsplatz genannt, stand damals auf einem Marmorbrunnen das Marmorstandbild Napoleons. Der 1820 an Stelle des alten, 1817 abgetragenen Residenzschlosses auf dem Paradeplatz begonnene großartige Bau der Kattenburg wurde wegen seiner Kostspieligkeit nicht fortgesetzt, sondern 1869 abgebrochen und das Material zu der neuen Bildergalerie (s. unten) benutzt. Vor der Gemäldegalerie steht die Marmorbüste (1883) des ersten preuß. Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau E. von Möller (gest. 1880) von Hassenpflug, am Fuße des von der schönen Aussicht ziemlich steil abfallenden Berggartens das Hessendenkmal (1874) «zum Andenken der als Opfer franz. Fremdherrschaft gefallenen hess. Patrioten», ein schlafender Löwe aus Marmor auf Granitsockel von G. Kaupert. Auf dem Martinsplatz soll ein Standbild Philipps des Großmütigen errichtet werden.
Kirchen. C. hat 5 reform., je eine luth., kath. und engl. Kirche, mehrere Kapellen, eine Kirche der Baptistengemeinde sowie eine Synagoge. Die größte ^[Spaltenwechsel] Kirche ist die St. Martinskirche auf dem Martinsplatz mit Schiff aus dem 14., Chor aus dem 15. Jahrh. und neuen gemalten Fenstern, 1842 restauriert; der zweite Turm ist 1891 nach Plänen von Schneider vollendet, im Chor Denkmal des hier beigesetzten Landgrafen Philipp des Großmütigen aus schwarzem Marmor mit alabasternen Reliefs. Die Oberneustädter Kirche auf dem Karlsplatz bildet ein von einer mit Kupfer gedeckten Kuppel überwölbtes Achteck und ist 1698–1710 für die damalige franz. Gemeinde erbaut; die Hof- und Garnisonkirche ist 1757 gegründet, die Unterneustädter Kirche 1801–8 erbaut; die 1781 von dem Landgrafen Friedrich Ⅱ. durch du Ry erbaute, im Innern prächtige kath. Kirche enthält ein Gemälde von Tischbein.
Weltliche Bauten. Am Friedrichsplatz liegen das ehemals kurfürstl. Palais, 1769 erbaut und 1821 durch das sog. «Rote Palais» aus rotem Sandstein vergrößert, das Museum Fridericianum (s. unten), 1769–79 unter Landgraf Friedrich Ⅱ. von du Ry erbaut, und das schöne Auethor, ebenfalls unter Friedrich Ⅱ. errichtet und 1824 erweitert; an demselben zur Erinnerung an 1870/71 zwei Bronzereliefs mit Figuren von Siemering (Abschied und Rückkehr der Krieger darstellend); am Ständeplatz das 1836 erbaute Ständehaus und das Kunsthaus; am Königsplatz das neue Postgebäude, das neue Schollsche Kaufhaus und mehrere Hotels; am Schloßplatz das Justiz- und Regierungsgebäude, 1876–80 vollendet, mit schönen Treppenhäusern; an der Bellevuestraße das Schloß Bellevue (s. d.) und die Bildergalerie, 1871–77 nach Plänen von von Dehn-Rotfelser in Renaissancestil aufgeführt, ein langer Mittelbau mit mächtiger Loggia im Hauptgeschoß und zwei Eckpavillons. Verwaltung. Die Stadt wird verwaltet durch einen Oberbürgermeister (Dr. Westerburg, 12000 M.), einen Bürgermeister (Klöffler, bis 1900, 7000 M.), 11 Stadtratsmitglieder (1 besoldetes), 48 Stadtverordnete und eine königl. Polizeidirektion (Polizeipräsident Graf Königsdorff), der 1 Polizeirat, 2 Inspektoren, 5 Kommissare und 52 Schutzleute unterstehen. Die Berufsfeuerwehr hat eine ständige Feuerwache (12 Feuerwehrleute unter einem Oberfeuerwachtmann); außerdem besteht eine Pflicht- und eine Freiwillige Turnerfeuerwehr. Die Wasserleitung liefert täglich bis 5000 cbm Quellwasser; die Anlage eines zweiten Wasserwerkes ist nahezu fertig gestellt. Die Kanalisation umfaßt 30,514 km Schwemmkanäle, die 5,731 km alten Kanäle werden nach und nach umgebaut. Die Gasanstalt lieferte (1890) 3828080 cbm Gas für 1597 öffentliche und 19901 Privatgasflammen (2234 Gasmesser) sowie für 41 Gasmotoren (120 Pferdestärken).
Der Verkehr auf dem städtischen Schlacht- und Viehhof betrug (1890/91) 46531 Schlachtungen (6714 Großvieh, 13144 Kälber, 9038 Hammel, 16876 Schweine, 526 Pferde, 233 Ziegen); der Viehauftrieb 11034 Stück (3254 Großvieh, 429 Kälber, 643 Hammel, 6708 Schweine).
Finanzen. Am 1. April 1891 betrug das Vermögen der Stadt 13109268 M., die Schulden 10654090 M. Nach dem Voranschlag für 1891/92 betrugen die Einnahmen 2058500 M., darunter 922037 M. direkte, 476740 M. indirekte Abgaben; für Unterrichtszwecke wurden aufgewendet 543580 M., für Beleuchtung 100000 M., für Straßenreinigung 49600 M., für Armenwesen 205100 M.
Behörden. C. ist Sitz des Oberpräsidiums der Provinz Hessen-Nassau, der königl. Bezirksregierung, des Landratsamtes für den Landkreis C., eines Oberlandesgerichts für den Reg.-Bez. C., mit Ausnahme der Kreise Rinteln und Schmalkalden, und den Kreis Biedenkopf (Landgerichte C., Hanau, Marburg), eines Landgerichts mit 31 Amtsgerichten (Abterode, Allendorf, Bischhausen, Carlshafen, C., Eschwege, Felsberg, Friedewald, Fritzlar, Grebenstein, Großalmerode, Gudensberg, Hersfeld, Hofgeismar, Lichtenau, Melsungen, Naumburg, Nentershausen, Netra, Niederaula, Oberkaufungen, Rotenburg, Schenklengsfeld, Sontra, Spangenberg, Veckerhagen, Volkmarsen, Wanfried, Witzenhausen, Wolfhagen, Zierenberg), eines Amtsgerichts, des Provinzial-Schulkollegiums, der Provinzial-Steuerdirektion, des Konsistoriums für den Reg.-Bez. C., einer königl. Generalkommission, der Landesdirektion, einer Oberpostdirektion für den Reg.-Bez. C. mit Ausschluß des Kreises Schmalkalden und der Grafschaft Schaumburg und für das Fürstentum Waldeck mit Ausschluß des Fürstentums Pyrmont, mit 286 Verkehrsanstalten, 1942,22 km oberirdischen Telegraphenlinien mit 8877,45 km Leitungen, einschließlich 401,50 km Stadtfernsprechanlagen, je eines Betriebsamtes der königl. Eisenbahndirektionen Elberfeld und Erfurt, mit 281,47 km bez. 252,95 km Bahnlinien, und zweier Betriebsämter der Eisenbahndirektion Hannover mit 240,81 km bez. 308,07 km Bahnlinien, einer königl. Eisenbahn-Hauptwerkstätten-Verwaltung; endlich des Generalkommandos des 11. Armeekorps, der Kommandos der 22. Division, der 43. und 44. Infanterie-, der 22. Kavallerie- und der 11. Feldartilleriebrigade.
Schul- und Bildungswesen. Das königl. pädagogische Seminar zur Ausbildung von Kandidaten ^[Spaltenwechsel] des höhern Schulamtes besteht seit 1885; königl. Friedrichsgymnasium (1779 gegründet, Direktor Dr. Vogt, 15 Lehrer, 9 Klassen, 275 Schüler), königl. Wilhelmsgymnasium (1866 eröffnet, Direktor Dr. Heußner, 32 Lehrer, 18 Klassen, 510 Schüler), städtisches Realgymnasium (Direktor Dr. Wittich, 33 Lehrer, 16 Klassen, 484 Schüler), städtische Realschule (Direktor Dr. Ackermann, 32 Lehrer, 18 Klassen, 604 Schüler), städtische Neue Realschule (Direktor Dr. Quiehl, 14 Lehrer, 7 Klassen, 200 Schüler); israel. Lehrer-Bildungs- und Schulanstalt mit Internat, Knabenvorschule, höhere Mädchenschule mit Lehrerinnenseminar, Mädchenmittelschule, 2 private höhere Mädchenschulen, 8 Bürgerschulen, darunter eine katholische; königl. Kunstakademie, gewerbliche Zeichen- und Kunstgewerbeschule, Kriegsschule, Militärvorbereitungsanstalt und Postfachschule.
Das Museum Fridericianum enthält antike Skulpturen, Gipsabgüsse ägypt. Statuen und Reliefs, kleinere antike Kunstwerke und Bronzen, antike und hess. Münzen, antike und neuere Gemmen und Kameen sowie Korknachbildungen alter röm. Bauwerke aus dem 18. Jahrh. In demselben Gebäude befindet sich die Landesbibliothek (170000 Bände und 1600 Handschriften, darunter das Hildebrandslied [9. Jahrh.]) sowie die ständige Ausstellung von Handschriften und seltenen Drucken; von 1814 bis 1830 waren Jakob und Wilhelm Grimm hier Bibliothekare. Die Bildergalerie enthält im Erdgeschoß Gipsabgüsse mittelalterlicher und neuerer Skulpturen, Werke der Kleinkunst und des Kunstgewerbes sowie die Wilhelmshöher Porzellan- und Fayencesammlung; im ersten Stockwerk die in den zwanziger Jahren des 18. Jahrh. vom Landgrafen Wilhelm Ⅷ. angelegte Gemäldegalerie mit Bildern der flandr. und holländ. Schule (Rembrandt und Franz Hals); im Treppenhause 8 allegorische Marmorstatuen der kunstgeschichtlich bedeutendsten Länder von Echtermeyer. Das königl. Theater (1177 Sitzplätze, Saison September bis Juli) befindet sich seit 1766 in dem jetzigen Gebäude; mit ihm verbunden sind eine Pensionsanstalt (1845 gegründet), ein Unterstützungsfonds (1826) für ausgediente Orchestermitglieder sowie deren Witwen und Waisen und eine Chor-Kranken- und Unterstützungskasse.
Vereine. Deutscher und österr. Alpenverein, Hessischer Bezirksverein deutscher Ingenieure, Architekten- und Ingenieurverein, Vereine für Hessische Geschichte und Landeskunde (1834 gestiftet), für Erdkunde, für Naturkunde (1836), für vereinfachte deutsche Rechtschreibung, zur Förderung der Bienenzucht, zur Revision und Überwachung von Dampfkesseln, für Innere Mission, gegen Mißbrauch geistiger Getränke, zur Beförderung des Gartenbaues, Arbeiter-, Frauenbildungsverein, Fischerei-, Geometer-, Gärtner-, Handels- und Gewerbe-, Hausbesitzer-, Jagdschutzverein sowie zahlreiche Gesang-, Musik-, Krieger-, Radfahrer-, Turn-, Stenographen- und Rudervereine.
Wohlthätigkeitsanstalten. Landkrankenhaus (Charité) zu Bettenhausen bei C., Hessisches Diakonissenhaus zu Wehlheiden (s. d.) bei C. mit Filiale Diakonissenheim zu C., Krankenhaus vom roten Kreuz, Entbindungsanstalt, Kinderhospital «zum Kinde von Brabant», je ein luth., reform., kath., israel. Waisenhaus, Kleinkinderschule und -Bewahranstalt, städtische Armenversorgungsanstalt, allgemeines Armenhaus, Armenhaus für Obdachlose, Asyl für gefallene Mädchen, Speise- und Suppenanstalt, Volksküche und Kaffeestube.
Industrie und Gewerbe. Die Henschelschen Maschinenbauwerkstätten mit bedeutendem Lokomotiven- und Turbinenbau (1892: 1965 Arbeiter) und die Fabrik für mathem. und physik. Instrumente von Breithaupt sind weltbekannt; ferner erstreckt sich die Industrie auf mechan. Weberei, Fabrikation von Eisenbahnwagen, Maschinen, Eisenmöbeln und Eisschränken, Klavieren, Gold- und Silberwaren, Messern, Porzellan, Tabak, Leder, Handschuhen, Wachstuch, Möbeln, Chemikalien, Buntpapier, Kartonnagen und Papierwaren, Zündhölzern und Brauerei. C. ist Sitz der 5. Sektion der Papierverarbeitungs-, der 3. der Lederindustrie-, der 5. der Hessisch-Nassauischen Baugewerks-, der 18. der Fuhrwerks-Berufsgenossenschaft und Sektion Cassel-Stadt der Hessisch-Nassauischen Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft.
Handel. C. hat eine Handelskammer für die Stadt und den Landkreis C., eine Reichsbankstelle, 16 Bank- und Wechselgeschäfte, je einen Kredit-, Gewerbe-, Vorschuß-und Spar-, allgemeinen Vorschußverein, eine städtische Sparkasse und eine solche für den Landkreis, eine Beamten-Spar- und Vorschuß-, eine Landeskreditkasse, eine National-Viehversicherungs-Gesellschaft sowie 2 Messen und 4 Jahrmärkte, darunter einer mit Wollmarkt.
Verkehrswesen. C. hat einen Centralbahnhof, in der Oberstadt einen Güterbahnhof und einen Bahnhof in der Vorstadt Bettenhausen und liegt an den Linien C.-Hannover (166,1 km), C.-Gießen-Frankfurt a. M. (200 km), C.-Bebra (58,2 km), C.-Schönfelde-Schwerte (189,7 km), C.-Nordhausen-Halle a. S. (217,6 km) und der Nebenlinie C.-Waldkappel (49,9 km) der Preuß. Staatsbahnen. 1890 gingen 100267 t Güter ab und 314113 t kamen an. Eine Dampfstraßenbahn (5,509 km, jährliche Beförderung etwa 990000 Personen) verbindet C. mit Wilhelmshöhe; außerdem besteht eine Pferdebahn (6,5 km, 920000 Personen). - C. besitzt zwei Postämter erster Klasse, ein Bahnpostamt, ein Telegraphenamt erster Klasse und Fernsprecheinrichtung mit 325 Sprechstellen.
Vergnügungsorte und Umgebung. Dicht vor der Stadt im S. und in Verbindung mit dem Orangerieschloß, in dem zur westfäl. Zeit öfters Hofbälle und Maskeraden gegeben wurden, befindet sich die Aue (Karlsaue), ein 1709 nach Plänen des Pariser Gärtners Le Nôtre angelegter Park mit schönen Bäumen und dem vom Landgrafen Karl (gest. 1730) 1720-28 erbauten Marmorbade (s. Tafel: Bäder Ⅰ, Fig. 5) mit Marmorskulpturen des Franzosen Monnot. Als Luftkurort gewinnt Wilhelmshöhe (s. d.) eine immer größere Bedeutung; südwestlich der Aue das Schlößchen Schönfeld oder Augustenruhe, und 8 km entfernt in einem anmutigen Thale das Lustschloß Wilhelmsthal. Die etwa 3 km entfernte Kaltwasserheilanstalt Bad Wolfsanger ist durch Omnibus mit C. verbunden.
Geschichte. Eines Ortes Chassala wird schon 913 in einer Urkunde König Konrads Ⅰ. gedacht. Der Landgraf Hermann der Jüngere von Thüringen bestätigte 1239 den Bürgern von C. aufs neue ihre Rechte und Freiheiten. Philipp der Großmütige verstärkte die Befestigungen der Stadt, Landgraf Karl legte 1688 die Oberneustadt an. Im Siebenjährigen Kriege wurde C. mehrmals von den Franzosen besetzt; 7. Nov. 1762 nahmen Friedrichs d. Gr. ^[Spaltenwechsel] Verbündete nach langer Belagerung die von den Franzosen verteidigte Stadt; bald nachher wurden die Festungswerke abgetragen. Nach dem Tilsiter Frieden ward C. 1807 die Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Westfalen. Nach kurzer Beschießung mußte die Stadt 30. Sept. 1813 dem General Tschernitschew übergeben werden, der sie aber bald wieder räumte. Jedoch kehrte König Jérôme nur auf wenige Tage zurück. Nach seiner Flucht hielt am 21. Nov. Kurfürst Wilhelm Ⅰ. von Hessen seinen Einzug. Am 19. Juni 1866 wurde C. von preuß. Truppen unter General von Beyer besetzt und ist seitdem preußisch.
Vgl. Piderit, Geschichte der Haupt- und Residenzstadt C. (Cass. 1844; 2. Aufl. 1882); Hahndorf, C. vor fünfzig Jahren (ebd. 1863); Fr. Müller, C. seit siebzig Jahren (2 Bde., ebd. 1876-79); A. Duncker, Landgraf Wilhelm Ⅳ. von Hessen und die Begründung der Bibliothek zu C. (ebd. 1881); Oberbeck, Touristenführer für die Umgebung von C. (5. Aufl., ebd. 1886); H. Brunner, C. im Siebenjährigen Kriege (ebd. 1884); Führer durch C., Wilhelmshöhe und Umgebung (8. Aufl., ebd. 1887); Woerls Reisehandbücher, Führer durch C. und Umgebung nebst Wilhelmshöhe (2. Aufl., Würzb. 1888); Dehn-Rothfelser und Lotz, Die Baudenkmäler im Regierungsbezirk C. (Cass. 1870); ders., Das Gemäldegaleriegebäude in C. (Berl. 1879).
s0986 10179 Brock14A3B Cassel Kassel Die Brockhaus Konversations-Lexikon Vierzehnte vollständig neubearbeitete Auflage. In sechzehn Bänden. Dritter Band. Bill - Catulus. F. A. Brockhaus in Leipzig Berlin und Wien. 1894